Paolo Maurensig – "Die Lüneburg-Variante"

Vor einiger Zeit entdeckte ich in einer Buchhandlung ein schmales Buch mit obigem Titel. Der Autor war mir zwar überhaupt nicht bekannt, doch da mein Bruder ein leidenschaftlicher Schachspieler ist und wir natürlich begeistert die "Schachnovelle" gelesen hatten, habe ich es gekauft und, wie sich schnell herausgestellt hat, war es ein glücklicher Kauf.

Eines Tages wird ein bedeutender Intellektueller aus der Schachwelt, Dieter Frisch, tot im Garten seines Hauses in der Nähe von Wien aufgefunden. Sowohl Unglücksursache als auch die Frage, ob es Selbstmord oder Mord war, bleiben ungeklärt. Man findet ein altes Schachbrett, mit einer komplizierte Stellung der Figuren. Scheinbar war diese Schachpartie das Letzte, was Dieter Frisch in seinem Leben tat und auch hier weiß man nicht, wer sein Gegner war.

Ein junger Mann, Mayer, eine der Hauptpersonen der Geschichte, kann den rätselhaften Tod aufklären. Er erzählt von Tabori, dem Mann, der ihn das Schachspielen gelehrt hat, das in seinem Leben eine große Rolle spielt, wie einst in Taboris Leben.

Der Grund für die letzte, tödliche, Schachpartie von Dieter Frisch liegt in seiner eigenen dunklen Vergangenheit. Mayer ist gekommen, um sich für das zu rächen, was Frisch an Tabori ehemals verbrochen hatte.

Mehr möchte ich nicht verraten...

Es ist auf jeden Fall ein großartiges Buch, spannend von hinten nach vorne aufgerollt und auch für jemanden, der keine Ahnung vom Schachspielen hat, durchaus empfehlenswert. Denn hier geht es nicht nur um Schach, es geht auch um Geschichte, um die Grausamkeit der Menschen, eingebettet in den Kontext des Nationalsozialismus, ohne ihn wirklich zum Thema zu machen. Wenn ich jetzt genau erzähle, was die Handlung des Buches ist, dann nehme ich ihm seine Überraschungsmomente, die unerwartet, bisweilen brutal, aber einleuchtend und logisch sind.

Dieses Buch ist gut durchdacht und trotzdem mehr als eine Kriminalgeschichte. Bis zum letzten Satz, der noch einmal für Gänsehaut sorgt, fühlte ich mich gezwungen weiter zu lesen und wollte das Buch nicht weglegen, so sehr hat es mich in seinen Bann gezogen.

Es ist ein sprachlich einfacher und inhaltlich nicht sehr komplizierter kurzer Roman, den man schnell verschlingen kann. Ich empfehle dieses Buch jedem, der –statt eines spannenden Psychothrillers im Fernsehen- eine tolle Unterhaltung sucht, die einen wahren Kern besitzt.

Nun noch zwei Leseproben, viel Spaß dabei,

Cosima Kießling

"Die Erfindung des Schachspiels ist wahrscheinlich verbunden mit einer Bluttat.

Die Legende sagt, als das Schachspiel zum ersten Mal am Hofe des Sultans vorgestellt wurde, wollte dieser dem unbekannten Erfinder zur Belohnung einen Wunsch, gleichgültig welchen, erfüllen. Dieser erbat sich ein scheinbar bescheidenes Geschenk. Er wollte soviel Getreidekörner haben, wie sich aus einer einfachen Addition ergaben: ein Korn für das erste der vierundsechzig Felder, zwei Körner für das zweite, vier für das dritte und so weiter...

Als aber der Sultan, der den Wusch anfangs höchst zufrieden vernommen hatte, erkannte, daß für die Erfüllung eines solchen Begehrens der Getreidevorrat seines Reiches und vielleicht der ganzen Welt nicht ausgereicht hätte, hielt er es, um sich aus dieser Verlegenheit zu befreien, für angebracht, dem Erfinder den Kopf abzuschlagen.

Die Legende verschweigt die Tatsache, daß dieser Herrscher danach einen sehr viel höheren Preis zahlen mußte. Er verfiel dem neuen Spiel mit einer derartigen Leidenschaft, daß er den Verstand verlor. Die Maßlosigkeit des legendären Erfinders entspricht also nur der des Spiels."

"Vergeblich suchte man eine Nachricht; auf seinem Schreibtisch fand man nichts außer einem Schachbrett, auf dem ein Spiel in fortgeschrittenem Stadium und in einer komplizierten Stellung zu sehen war.

Es war jedoch ein merkwürdiges Schachbrett, denn es war aus hellen und dunklen Stoffstücken zusammengenäht worden; und statt der Figuren lagen darauf Knöpfe verschiedener Größe, die auf einer Seite notdürftig – wahrscheinlich mit einem Nagel eingeritzt – die Figuren zeigten.

Von den Tageszeitungen, die berichteten, was sich den Augen der ersten Zeugen darbot, hatte nur ein Provinzblatt, wahrscheinlich aus Mangel an Informationen aus erster Hand, sich bei dieser Einzelheit aufgehalten, die offenbar unbedeutend war, und am Ende des Artikels stand: ‚Niemand wird jemals erklären können, warum Doktor Frisch in dieser Nacht aus seiner Sammlung kostbarer und berühmter Schachbretter einen derartig wertlosen Lumpen ausgewählt hat. Vielleicht um darauf seine letzte Partie zu spielen: die mit dem Tod.‘

In diesen ein wenig melodramatischen Worten verbirgt sich die Wahrheit. Dennoch hat keiner der Ermittlungsbeamten ihnen das richtige Gewicht beigemessen. Offensichtlich sind auch die Fingerabdrücke auf den ungewöhnlichen Figuren gesichert worden; jedoch ist sicher, als diese Figuren aus ihrer ursprünglichen Stellung bewegt wurden, ein Indiz beseitigt worden, vielleicht das einzige – wenngleich, wie ich gestehen muß, ein schwer erkennbares."

(Paolo Maurensig: Die Lüneburg-Variante)

 

Zurück zur Inhaltsseite Nachricht an uns

BÜCHERKISTE

 

  

Diese Inhalte werden nicht mehr aktualisiert und enthalten ggf. veraltete Informationen