Das Arbeitsfeld
ist die ganze Welt

Kardinal Georg Sterzinsky zum Jahr 2000

Berlin - Zu jedem Jahreswechsel gehören Bilanz und Prognose. Beim markanten (vermeintlichen) Jahrhundert- oder Jahrtausendwechsel wäre es zu wenig, nur zwei Jahre in den Blick zu nehmen. Das zu Ende gehende Jahrtausend - wer wollte ernsthaft behaupten, das ganze überblicken oder auf einen Nenner bringen zu können? Das letzte Jahrhundert? Für die letzten Jahrzehnte ist der zeitliche Abstand zu gering, um mit der Nüchternheit des Historikers objektiv urteilen zu können. Geschichte und Zeitgeschichte haben unterschiedliche Maßstäbe. - Und die Rückschau auf das letzte Jahrzehnt? Die Zeitspanne scheint zu kurz, um den Jahrhundertwechsel zu charakterisieren.
Noch schwieriger ist es, einen vor uns liegenden Zeitraum in den Blick nehmen zu wollen: wer ahnt, was das nächs-te Jahrzehnt bringt ... oder das Jahrhundert? Vom Jahrtausend redet niemand seriöserweise.
Ich sehe ab von Einzelereignissen, und wären sie noch so herausragend. Aber geistig-geistliche Entwicklungen, die erkennbar sind und den Gang der Geschichte bisher - vielleicht maßgeblich - beeinflusst haben und auch am Beginn des neuen Jahrhunderts wirksam sein werden, verdienen Aufmerksamkeit.
Hinter allen Fragen steht für mich die Sorge: Werden Menschen Gott finden? Sie suchen Ihn, ob sie es wissen oder nicht. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott“ (Heiliger Augustinus). Offensichtlich aber ist es schwer, Ihn zu finden.
Erste Frage: Welche Bedeutung hat die Familie? Wen man auch fragt, die allermeisten sagen: Den Glauben habe ich von meinen Eltern empfangen; aus dem Glauben zu leben, habe ich in der Familie gelernt. Was aber, wenn das religiöse Leben in der Familie ausfällt? Mit Aufmerksamkeit beobachte ich die Auflösung bisheriger Formen familialen Lebens. Von Natur aus auf Familie angelegt, beginnen Menschen aber sofort nach neuen familialen Lebensformen zu suchen. Es bleibt aber die sorgenvolle Frage, ob der Glaube an Gott gemeinschaftlich gelebt und so an die nachwachsende Generation wie ein kostbares Erbe weitergegeben wird. Er scheint nicht nur aus dem öffentlichen in den privaten Raum abgedrängt zu werden, sondern auch innerhalb der Familie ganz individualisiert zu werden. Kindergarten, Schule, Arbeits- und Freizeitgemeinschaften vermögen nur sehr selten die religiöse Einübung, die die Familie erbringen müsste, zu ersetzen. Ich befürchte, dass weithin noch nicht bewusst geworden ist, wie verhängnisvoll sich auswirken wird, wenn die Familie als Traditionsträger ausfällt und in ihr das geistliche Leben nicht eingeübt wird.
Damit bin ich bei der zweiten Frage: Welche Bedeutung haben die Kirchen? Gewiss werden Gemeinden und Gemeinschaften eine Anziehungskraft behalten. Für Außenstehende erscheinen die Kirchen aber vor allem als Institutionen, und Institutionen begegnet man mit Skepsis. „Kulturelle Vielfalt“ heißt die Losung. Auch auf religiösem Gebiet haben die Kirchen keine Monopolstellung mehr. Neu ist nicht, dass es viele Kulturen und Weltanschauungen gibt; neu ist, dass sie überall bekannt gemacht und angepriesen werden. Unkommentiert stehen kirchliche Angebote neben der Reklame für heidnische Religionen (und anziehend wirken sie, wenn sie nur fernöstliche Elemente enthalten) und neben Werbeplakaten für „Esoterik-Tage“. Viel Nebeneinander, Durcheinander, auch Gegeneinander! Und wer ist in der Lage, kritisch zu urteilen? Dabei gibt es ein tiefes Verlangen nach Spiritualität. Wie leicht greift einer nach dem, was sich gerade gefällig bietet.
Und schließlich stellt sich die Frage nach der Macht und Wirkung der Massenmedien. Dazu gibt es viele Studien; ich bin aber nicht sicher, ob sie klare und gesicherte Auskunft darüber geben, wie sich Zeitungslektüre, Fernsehkonsum und Nutzung des Internets auf die moralische und religiöse Haltung auswirken. Ich beurteile die Medien keineswegs uneingeschränkt negativ, aber ebenso wenig pauschal positiv. Sie sind ambivalent: es kommt darauf an, wie sie genutzt werden. Mir scheint aber, dass die heranwachsende Generation nicht zum differenzierten und kritischen Gebrauch erzogen wird. Dann aber wirkt die Kommerzialisierung, die mit der Privatisierung einhergeht, verhängnisvoll.
Mit der Situationserhellung zeigen sich die Aufgaben, denen sich unsere Kirche am Beginn des neuen Jahrhunderts zu stellen hat. Es geht nicht um Einzelaktionen, sondern um eine Heilung von der Wurzel her - jene Heilung, die die vom Heiligen Vater erhoffte und so notwendige Neuevangelisierung erbringen soll. Grundlegend ist eine Neuentdeckung des Wertes, den Ehe und Familie haben. Gegen manches Missverständnis und manche verzerrende Darstellung bietet das katholische Eheverständnis eine tragfähige Grundlage für den ernsthaften Wunsch nach partnerschaftlichem Leben vor Gott und mit Gott. Zwei Menschen schließen einen Bund, der vor Gott gilt und nicht ohne Ihn sein kann. Sie stellen ihre Lebens- und Liebesgemeinschaft unter den Schutz Gottes und dürfen vertrauen, dass ihre Ehe von Gottes Beistand begleitet wird.
Historisch gesehen hat die christliche Überzeugung von der Einheit, Unauflöslichkeit und sakramentalen Würde der Ehe die Entwicklung zu einem partnerschaftlichen und personalen Verständnis ehelicher Liebe, wie es uns heute selbstverständlich erscheint, wesentlich mitgeprägt.
Wenn nicht mehr wirtschaftliche Gründe oder gesellschaftliche Konventionen eine Ehe zusammenhalten, stellen sich freilich höhere Anforderungen an die persönliche und religiöse Reife der Ehepartner. Keine Sorge: die Kirche wird in ihrer Seelsorge realistisch bleiben. Sie wird sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass es viele Teilfamilien gibt, sogenannte „Ein-Eltern-Familien“, Stieffamilien, Familien, die auf nichtehelichen Lebensgemeinschaften basieren. Und sie wird ihnen nach Kräften beistehen. Das soll sie aber nicht verleiten, das Leitbild der auf Ehe gegründeten Familie aufzugeben.
Im Zusammenhang mit Veränderungen im beruflichen, wirtschaftlichen, kulturellen Leben der Gesellschaft werden sich neue Formen des familiären Lebens entwickeln. Aktuell wird die Frage debattiert, wie Familien- und Erwerbsarbeit gerecht und für alle förderlich aufgeteilt wird. Noch ist die beste Lösung nicht gefunden. Sicher ist, dass familienpolitische Entscheidungen zur Förderung der Familie anstehen. Aber auch die Kirche - konkret: die Gemeinde - muss dazu stehen, dass Familien besonderer Unterstützung und Förderung bedürfen. Ich sehe Möglichkeiten dafür: etwa neue Angebote von Kindergarten-, Schul- und Elternpastoral; die Feier von Kinder- und Familiengottesdiensten; spezielle Partner- und Familienexerzitien; Literatur, die für Ehepaare und Familien zugeschnitten ist; Hilfen beim Aufbau und geistliche Begleitung von Familienkreisen bzw. familienorientierten Initiativen.
Mit der Sorge um die Familie eng verbunden ist das Bemühen um die Jugendlichen, die noch vor der Glaubensentscheidung stehen. Sie sind ansprechbar für die Angebote des „pluralen Marktes“ und der Mediengesellschaft. Nicht wenige suchen in esoterischen Zirkeln, was sie in der Kirche nicht (mehr) finden zu können meinen. Gerade sie bedürfen der verlässlichen Orientierung; die allerdings muss vertrauenswürdig erscheinen. Junge Menschen haben ein Gespür dafür, ob jemand „authentisch“ - sie sagen: „echt“ - ist. Sie möchten mit ihren eigenen Gedanken, Erlebnissen und Erfahrungen ernst genommen werden und Menschen begegnen, die ohne Überlegenheitsanspruch und aufrichtig ihre Überzeugungen mitteilen. Nur eine Kirche, die nicht um sich selbst besorgt ist, sondern um andere, wird die junge Generation erreichen können, eine Kirche, die sich bemüht, die Probleme der Jugendlichen zu erfassen, ihre Sprache zu sprechen und Antworten auf ihre Lebensfragen zu geben; eine Gemeinde, die die kreativen Kräfte junger Talente fördert und ihre Impulse überdenkt; kurz: ein Kirche, die sich auf „die heutige Jugend“ einlässt. Sie wird auch den Vorwurf ertragen müssen, im Vorfeld des Religiösen zu bleiben. Die Gefahr ist zweifellos gegeben, wenn Menschen aus dem religionsfreien Raum abgeholt werden müssen. Doch braucht deshalb das Ziel nicht aus dem Auge verloren zu sein: in der Gemeinschaft der Kirche zu Christus zu führen.
Wachsende Bedeutung - in der Jugendarbeit, aber weit darüber hinaus - werden die neuen geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen innerhalb der Kirche erlangen. Im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert gibt es so viele geistliche Aufbrüche und Gründungen von geistlichen Gemeinschaften wie wohl kaum einmal in der bisherigen Kirchengeschichte. Ich bin überzeugt: Sie sind ein Geschenk des Herrn an seine Kirche, die in einer Zeit des spirituellen Pluralismus, der Angebotsfülle und Mediendominanz nach zeitgemäßen Antworten sucht. Die Anfänge dieser geistlichen Bewegungen gehen teilweise auf die Zeit vor dem II. Vatikanischen Konzil zurück. Das Konzil und die nachkonziliare Erneuerung haben bestärkend und belebend gewirkt. Über einen langen Zeitraum hat die Spiritualität der alten Orden prägend gewirkt. Neugründungen haben an den alten Regeln Maß genommen. Nun bilden sich Gruppen, die in einer urtümlichen Weise die Heilige Schrift lesen, das Erbe der Tradition nicht ausschlagen, aber ganz neu ansetzen. Sie entdecken verborgene Schätze und bilden neue Gemeinschaften; auffallend ist dabei, wie sich mehrheitlich Laienchristen mit Priestern und Diakonen wie Ordenschristen zusammenfinden und sich um ein intensives geistliches Leben bemühen. Viele Gemeinschaften wirken anziehend für ernsthaft Suchende. Neuartige Gemeinschaften haben immer beunruhigend gewirkt. Kein Wunder, dass sie sich auch heute der Kritik stellen müssen. Das wird ihnen selbst gut tun. Die Maßstäbe sind klar. Den wichtigsten gibt Christus selbst: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Die Früchte aber, die überzeugen, heißen: Hingabe an Gott - sozialer Einsatz - Förderung der Einheit (nicht Polarisierung!) - Gewinnung von Fernstehenden - Friede und Freude.
Schließlich kann niemand an die Zukunft denken, ohne das ökumenische Anliegen zu nennen. Papst Johannes Paul II. hat den dringenden Wunsch ausgesprochen: das 2. Millennium, das Jahrtausend der Spaltungen, möge von einem Zeitalter der Einigungen abgelöst werden.
Die ökumenische Ausrichtung alles kirchlichen Tuns ist keine Frage des Ermessens und der persönlichen Vorliebe, sondern sie ist den Christen durch den Herrn verpflichtend aufgetragen. Am Abend vor seinem Tod betet Jesus: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17, 21). Die Glaubwürdigkeit der Christen hängt da-ran, ob sie die Einheit untereinander leben und am Ziel der vollen Kirchengemeinschaft festhalten. Das bedeutet konkret: immer wichtiger wird der lebendige Austausch mit Gemeinden von getrennten Kirchen; die Offenheit, immer auch die Schwestergemeinden bzw. ökumenischen Gemeinschaften im Blick zu behalten; die Bereitschaft, sich die Sorgen und Ängste der Menschen zu eigen zu machen und gemeinsam aus der Botschaft des Evangeliums Antworten zu geben.
Jahreswechsel - Jahrhundertwechsel - Jahrtausendwechsel: wirklich ein Anlass zur Standortbestimmung und Besinnung auf anstehende Aufgaben. Christen sind immer gesandt und beauftragt, alle Menschen zu Jesu Jüngern zu machen. Das Arbeitsfeld ist die ganze Welt. Beginnen müssen wir da, wo wir leben. Die Aufgabe ist riesig. „Die Ernte ist groß. ... Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“

+ Georg Kardinal Sterzinsky

Nr. 1/00 vom 2. Januar 2000
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