„Der Friede sei mit Euch“

Gedanken zum 40. Jubiläum der Priesterweihe des Erzbischofs von Berlin, Kardinal Georg Sterzinsky


Berlin - „Das müssen Sie nehmen“, sagt die Cutterin im ORB-Schneideraum, „unbedingt!“ Wir schneiden einen Fernsehbeitrag über die feierliche Aussendung der Sternsinger. Ein Kamerateam war vor Ort in der St. Hedwigs-Kathedrale, hat drei Kassetten gefüllt. Sechs Minuten Fernsehen sollen nun daraus werden. Die Cutterin zeigt auf Bilder vom Anfang: „Der Friede sei mit Euch“, so begrüßt Kardinal Sterzinsky da die jungen Könige, und ich soll diese Bilder also „unbedingt“ in meinen Film einbauen. Ich reagiere als gelernte Katholikin: „Was sollte er denn sonst sagen?!“ Die Cutterin schüttelt den Kopf: „Von mir aus kann er sagen, was er will. Aber wie er es sagt, das finde ich stark: Er wünscht den Leuten wirklich Frieden. Das merkt man doch. Authentisch ist das, deshalb kommt auch rüber, was er meint.“
Georg Sterzinsky stammt aus dem Osten, aus Warlack in Ostpreußen. Durch die Flucht hatte es ihn nach Thüringen verschlagen. In Erfurt wurde er am 29. Juni 1960 zum Priester geweiht. Eine spektakuläre Berufungsgeschichte erzählt er nicht. Wohl aber, wie Menschen mit selbstverständlichen, mit bodenständigem Glauben ihn geprägt haben: der tiefgläubige Vater, die frommen Geschichten, die Großmutter erzählte, der Jesuitenpater, bei dem er minis-trierte und dessen Predigten ihn beeindruckten. Und der den Jungen gern hatte, einfach so, ohne Bedingung, auch dann, wenn der Heranwachsende gelegentlich ausrastete. „Der Pater entschuldigte meine Zornesausbrüche sehr gütig mit dem Hinweis auf den heiligen Franz von Sales. Der sei ja auch jähzornig gewesen, doch durch die Gnade Gottes später so milde geworden, dass man ihn sanftmütig nannte“. Dabei schmunzelt er. Er weiß, was so mancher jetzt denken wird. Und er kann auch über sich selbst lachen. Humor zu haben könnte bedeuten, man ist noch nicht fertig mit der Welt. Wer sich selbst keine Fehler gestattet, der gestattet auch Gott nicht, barmherzig zu sein.
Und zornig zu werden ist ja nicht von vornherein verwerflich. Georg Sterzinsky bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Eine „Mischung von Entschlossenheit und Arglosigkeit“ nennen es manche. Sich verbiegen zu lassen, das hat er nicht zugelassen. Als Kaplan in Eisenach und im Eichsfeld nicht und nicht als Pfarrer von Jena. „Pfarrer Sterzinsky hat uns immer den Rücken gestärkt. Bei ihm konnte man nachts noch klingeln, wenn man ein Problem hatte oder Angst, und den DDR-Funktionären hat er nicht den kleinen Finger gegeben“, erzählt eine Frau aus Jena. „Für uns war er ganz einfach ein guter Priester. Punkt.“ Später, nach einem Umzug, traf sie ihn als Erzbischof von Berlin wieder. Als Bischof müsse er bestimmt oft am Tisch der Mächtigen und der „VIPs“ sitzen, sinniert die arbeitslose Sozialpädagogin, „da wirkt er mächtig. Aber er ist auf der Seite der Machtlosen geblieben.“ Eine Einschätzung, die einem Priester gut zu Gesicht steht: kein „Diplomat an Christi Statt“ zu sein, sondern Botschafter, der Liebe Gottes. Der Kardinal nennt das auch „Farbe bekennen“.
Von Gott reden und sein Reich mit aufbauen, dazu hat der Priester sein „adsum“ gesagt. Und das, ohne zu spalten, ohne zu polemisieren: Wer aufbauen will, muss integrative Kraft haben. Und er muss wissen, wessen Reich gemeint ist. Dabei kann schon ‚mal ein Priester den anderen trösten, so geschehen im Treppenhaus des Erzbischöfliches Ordinariates in der Französischen Straße: Auf dem Weg zum Sitzungssaal trifft Pfarrer XY den Kardinal. „Du siehst reichlich müde und kaputt aus“, stellt der Kardinal fest. „Ja, mir ist momentan alles zu viel, alles wächst mir über den Kopf“, stöhnt XY. Der Kardinal nickt: „Das Gefühl kenne ich, das geht mir auch oft so“, lautet die mitbrüderliche Reaktion. „Aber ich sage mir dann, dass es ja schließlich Sein Reich ist und nicht meins, und dann geht es mir wieder besser.“ „Deus semper major“ heißt der Wappenspruch des Bischofs von Berlin. Gott ist immer größer.
Die meisten Berliner und Brandenburger kennen Georg Sterzinsky als Bischof, als den Mann in Kardinalsrot. Feierlich schreitend, würdevoll. Wohl aber mit mehr Bürde als Würde, zumindest hier, im Osten Deutschlands, als „oberster Katholik“ der größten Diözese des östlichen Deutschlands. Doch zunächst ist der Bischof ein Priester. Und das kann von allerlei Herausforderungen begleitet sein: Der Priester müsse gut predigen, möglichst schön singen, die Kranken solle er besuchen, keinen 75. Geburtstag vergessen, beim Garagenbau könne er natürlich auch zur Kelle greifen, die Jugendlichen für Mutter Kirche begeistern, den Kindern die Zehn Gebote beibringen, eine Wallfahrt organisieren, sich um die Obdachlosen auf seinem Pfarrgebiet kümmern und jetzt, wo ja so manche Hausmeisterstelle gestrichen wurde, auch den Rasen sprengen. Von solch „eierlegenden Wollmilchsäuen“ hält der Kardinal nichts. Der Priester sei berufen, in spezifischer Weise fruchtbar zu sein, nämlich die Sakramente zu spenden. Dazu wurde er bevollmächtigt und dafür gebe es eine Bedingung: in Verbindung mit Christus zu sein und es zu bleiben. Ohne diese Lebensgemeinschaft mit dem Herrn seien alle Aktionen „nur Luftstreiche“, betonte er anlässlich einer Priesterweihe.
In Berlin tobt die Internationale Funkausstellung, die IFA. Zum Schicksal eines Berliner Bischofs gehört es, der IFA drei, vier Stunden Lebenszeit zu schenken, zum Beispiel den Stand der Katholischen Hörfunk- und Fernseharbeit zu besuchen. Damit er schnell zu dieser „Medienkirche“ finde, hole ich ihn ab. Ich klingele an seiner Wohnungstür. Eine Frau öffnet: „Gehen Sie vor ins Wohnzimmer, Herr Kardinal kommt gleich.“ Auf dem Wege komme ich an der Hauskapelle vorbei. Die Tür ist offen. In der hintersten Ecke sitzt der Kardinal und betet. Still ist es. Eine lebendige Stille, so empfinde ich sie. Da sitzt jemand, der einen langen Atem hat, weil er den Atem aufnimmt, der vom Vater kommt. Weil er sich nicht nur von der Einmaleins-Logik des Verstandes leiten lässt. Mir war es unangenehm, wegen einer „Aktion“ diese Art der Verbindung zu stören.
Ortswechsel. In Alt-Buchhorst ist Seniorenwallfahrt. Nachmittags kommt es zu einer spontanen Autogrammstunde: Immer mehr Seniorinnen drücken dem Kardinal ihr „Gotteslob“ in die Hand, damit er es signiere. Er angelt sich einen Stuhl, und schon bildet sich eine Schlange. „Wie heißen Sie“, fragt der Kardinal, um der Widmung eine persönliche Note zu geben, wenn er jemanden nicht „identifizieren“ kann (und er kennt erstaunlich viele seiner Erzdiözesanen). Tieferliegende Gespräche müssen allerdings ausbleiben. Es warten ja noch viele, da ist wenig Zeit für den einzelnen. „Wie fühlen Sie sich eigentlich dabei, wenn Sie so fließbandartig mit Gruß und Segen Autogramme geben“, fragt eine Journalistin, die die Szene beobachtet. „Ich kann mir vorstellen, wie Sie das empfinden“, entgegnet der Kardinal. „Aber wenn ich den, der mir sein Gebetbuch gibt, frage, wie er heißt, dann gucke ich ihn mindestens für diesen Moment an. Und wenn ich dann unterschreibe, bete ich für den, dem das Gebetbuch gehört. - War es das, was Sie wissen wollten?“ Die Journalistin nickt.
„Als Priester erlebe ich den Kardinal besonders in der Verkündigung“, so sieht es eine Berliner Religionslehrerin. „Nicht jedes Wort, aber sehr viele seiner Worte empfinde ich als priesterlich.“ Sie hat Jugendliche auf die Firmung vorbereitet und ist mit ihnen zur Kathedrale gefahren. Nach der Abendmesse haben sie eine „Audienz“ beim Kardinal gebucht. Es gibt Orangensaft und ein Gruppenfoto. Und das Gespräch mit dem, der sie also firmen wird. „Er war so wie ein Vater, also ein richtiger Vater. Zu dem würde ich gehen, wenn ich Sch... gebaut hätte“, resümiert ein Jugendlicher. Der Kardinal hatte sie gefragt, sich interessiert für ihre Ideen und ihre Probleme, für gute wie für schlechte Erfahrungen mit dem Glauben und der Kirche. Er hatte zugehört, wirklich hingehört, und er kann zuhören. Gerade Jugendliche merken, ob sie ernst genommen werden. Die meisten von ihnen trauten sich zu reden und zwar ehrlich und ungeschminkt. Verstummt waren sie also nicht vor dem Kirchenmann mit allerhöchsten Weihen. Für sie war er der Priester, der die Heilige Messe feiert, der Sakramente spendet und betet. Auch für sie betet. „Ich glaube, der meint das ehrlich. Er ist wirklich total überzeugt von Gott, nicht nur so von Berufs wegen!“ Die Firmbewerberin ist nachdenklich geworden, kurz vor dem Firmsonntag. Denn der Kardinal hatte ihnen geantwortet, klar in der Sache, ohne Schmus, auch Grenzen ziehend. Schließlich muss (und will!) er das Evangelium verkünden, gelegen oder ungelegen. Und manche der jungen Leute haben verstanden: Ihnen sitzt einer gegenüber, der sein ganzes Leben, vom Lebensziel bis zum Lebensstandard, auf eine Karte gesetzt hat, nämlich darauf, dem Zeugnis der Zeugen zu glauben. „Der Herr ist wahrhaft auferstanden“.

Juliane Bittner


 Nr. 27/00 vom 18. Juni 2000
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