„Am Anfang fühlte ich - ich stehe daneben“

Die Erfahrungen von zwei „Westpfarrern“ im Osten und drei „Ostpfarrern“ im Westen - zehn Jahre nach der Wende waren höchst unterschiedlich. Und dennoch stimmen alle überein: So groß sind die Unterschiede nicht mehr...

Berlin - Von der Schule aus, ausgerechnet vom „Staatsbürgerkunde“-Raum, konnte man das Märkische Viertel mit seinen Hochhäusern sehen. Es war aber für den kleinen Stefan Friedrichowicz unerreichbar, denn eine schier unüberwindliche Mauer lag zwischen Niederschönhausen und Reinickendorf, wozu das Märkische Viertel gehört. Einmal fand er einen Luftballon - mit einer Westadresse drauf. Er stammte von „drüben“. Manchmal träumte der kleine Stefan davon, einmal - wie dieser Ballon einfach so über die Mauer zu fliegen. Stefan wurde Priester und - ist heute Pfarrer in jenem Märkischen Viertel. Die „Wende“ hat es ermöglicht.
Vor zehn Jahren, als die Mauer fiel, war Stefan Friedrichowicz Rektor des Christian-Schreiber-Hauses in Alt-Buchhorst. In sogenannten „Philosophischen Kursen“ konnten die Jugendlichen dort ihre Erfahrungen mit dem DDR-Alltag offen erzählen. Sie erzählten auch von den Demonstrationen, von Verhaftungen, von den Friedensgebeten in ihren Gemeinden.
1989 war kommissarischer Leiter des Bischöflichen Amtes für Jugendseelsorge im Ostteil des Bistums Monsignore Alfons Kluck. Ebenso wie Friedrichowicz konnte er sich zu der Zeit gar nicht vorstellen, dass er einmal eine Pfarrei im Westteil übernehmen würde. Für ihn war West-Berlin - wie auf den Ost-Berliner Stadtplänen - ein „weißer Fleck“. 1991wurde er aber vor eine schwere Entscheidung gestellt: Durch den Weggang der Redemptoristen aus Marienfelde, sie suchten sich eine neue pastorale Aufgabe in der Stadt Brandenburg, war die St. Alfons-Gemeinde in Berlin-Marienfelde vakant geworden, und keiner bewarb sich für diese recht junge, noch wachsende Kuratie im Süden Berlins. „Soll ich es wagen und mich noch einmal umorientieren?,“ dachte Msgr. Kluck. Mit „nicht ganz leichtem Herzen“, so erinnert er sich, „ging ich hin, denn ich wußte ja nicht, was mich dort erwartet“.
Doch wenn der heutige Dompfarrer an der St. Hedwigs-Kathedrale auf die fünf Jahre „Alfons in St. Alfons“ zurückschaut, so muss er bekennen: „Schweren Herzens bin ich gekommen, schweren Herzens wieder weggegangen“. Ein Jahr habe es gedauert, bis gegenseitige Vorbehalte, ja Vorurteile abgebaut wurden. Vielen in der Gemeinde war anfangs die Enttäuschung anzumerken: „Früher hatten wir hier vier Patres in der Seelsorge, jetzt haben wir nur einen Pfarrer - und der ist noch dazu aus dem Osten!“
Anfangs fuhr Pfarrer Kluck noch seinen „Wartburg“ in Marienfelde. Schon deshalb musste er sich von anderen Autofahrern manche Beschimpfungen gefallen lassen. („Blöder Ossi!“). Auch in der Gemeinde hatte er zunächst einen schweren Stand. „Ich hatte immer das Gefühl, ich stehe daneben“. Da gab es die fest zusammenstehenden Familienkreise. Er erlebte „eine ganz andere Art von Kirche“.
Das Klischee vom „Ostpfarrer“ war nicht von Dauer. „Teamarbeit“ zum Beispiel war Msgr. Kluck auch als Jugendseelsorger Ost gewöhnt. Allmählich merkte man auch, da war einer, der immer für sie da war. Das war Pfarrer Klucks erlebte „Wende“. Plötzlich war er der „Seelsorger“, mit dem man viele intensive Gespräche führen konnte. Und er entdeckte nach und nach, dass es eigentlich doch keinen Unterschied zwischen den Menschen in Ost und West gab. „Man hatte nur unterschiedliche Erfahrungen gemacht“, betont Msgr. Kluck heute. „Auch im Westen hatten die Menschen ihre Ängste“. Msgr. Kluck hat gelernt, „dass Seelsorge sehr persönlich sein kann und muss“. Bis spät in die Nacht klingelten manchmal die Menschen, um das seelsorgliche Gespräch zu suchen.
In den fünf Jahren setzte Pfarrer Kluck auch Impulse im Gemeindeleben, so die Gründung des „Club 60“ für Senioren. Die Zahl der Ministranten wuchs wieder auf 47. Ein Fazit der fünf Jahre im „Westen“: „Ich habe persönlich viel gelernt und auch viel Ermutigung erfahren“.
Ein kleines „Abenteuer“ war das schon, als er sich als der erste Priester aus dem Osten auf den Westen „einließ“. Mittlerweile sind ihm weitere gefolgt, auch umgekehrt „Westpriester“, die eine Pfarrei im Osten übernahmen. Ein Beispiel ist Pfarrer Boto H. Mey, der im Westen, in Spandau, aufgewachsen ist, war nach seiner Priesterweihe Kaplan in West-Berliner Großstadtpfarreien. Schließlich wurde er Pfarrer in St. Elisabeth, mitten im Kiez der sogenannten Schöneberger „Insel“. Hier war Kardinal Alfred Bengsch aufgewachsen. Eine Gegend der Hinterhöfe und Seitenflügel, grau und nicht gerade attraktiv.
„Ich bin ein sehr abenteuerlicher Mensch“, sagt Boto Mey von sich. „Ausserdem liebe ich das Landleben - seit meinem Theologiestudium in Tübingen“. Pfarrer Mey ließ sich darauf ein, 1997 in den äußersten westlichsten Zipfel des Erzbistums zu gehen und die Pfarrei St. Heinrich in Wittenberge an der Elbe zu übernehmen, sowie die kleine Gemeinde St. Norbert in Havelberg. Obwohl es kontrastreicher eigentlich gar nicht geht, kommt Pfarrer Mey zum gleichen Schluss wie Dompfarrer Kluck: „Es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschen in West und Ost“. Sicher sei der Arbeitsstil „etwas anders“ und der „Standard ist hier noch nicht wie im Westen - alles eher hausgemacht“. Aber Mey betont, „der Wechsel zwischen Kreuzberg und Wilmersdorf war für mich extremer als der Wechsel von Schöneberg hierher“.
Es war kein normaler Wechsel. Während er in Schöneberg sein ganzes Pfarrgebiet zu Fuß erreichen konnte, liegen die Kirchen der beiden Gemeinden Wittenberge und Havelberg 40 Kilometer auseinander. Pfarrer Mey nimmt das alles gelassen. Zum Thema „Hausgemachtes“ erzählt er die Anekdote: Als er die Kirche begutachtete, fiel ihm das Ewige Licht auf. Ihm kam es vor wie ein „umgestülptes Marmeladenglas“. Da entgegnete ihm der Begleiter entrüstet: „Nein, das ist ein Gurkenglas!“ Die Wohnung im Pfarrhaus musste für den neuen Pfarrer erst einmal renoviert werden. Pfarrer Mey zog deshalb zunächst in eine „Gästewohnung“. Nachts tobten die Mäuse durch seine Wohnung, erinnert er sich. „Also zog ich in das noch nicht fertige Schlafzimmer der Pfarrwohnung“. Das „Ruinöse“ habe ihn schon immer gereizt, das sei „ein Eldorado für mich“. Pionierarbeit zu leisten, mache ihm Spaß. Pfarrer Mey wurde von Anfang an von der Wittenberger Gemeinde „umarmend begrüßt“, denn er war so ganz anders als Pfarrer Kuhn. Dem eher nüchternen und kunstverständigen Vorgänger, der die Kirche von dem berühmten Dresdner Künstler Friedrich Press umgestalten ließ, folgte nun ein „Westler“, der „mit barocker Fröhlichkeit“ diesem eher grauen, modernen Kirchenraum wieder Buntes entgegensetzen wollte. Der auch in die Liturgie Gefühle einbrachte. Das wurde von der Gemeinde angenommen. Pfarrer Mey staunte, wie schnell die Gemeinde ihn als neuen Pfarrer akzeptierte. Dennoch ist wahrscheinlich noch immer ein Unterschied zwischen West und Ost zu spüren. „Ich bemerke mehr Abstand zwischen dem Pfarrer und den Gemeindemitgliedern. Auch bei den Jugendlichen. Man hat mehr Respekt vor dem Amt. Wenn ich beim ersten Mal streng gucke, reicht das schon. Es gibt keine Kumpanei. Wenn der Pfarrer spricht, dann hat das Gewicht!“
Umgekehrt hat das der frühere Jugendseelsorger Stefan Friedrichowicz im Märkischen Viertel erfahren. Er bemerkte, „den Pfarrerbonus habe ich hier nicht, jedenfalls nicht bei den Jugendlichen. Hier sehen sie in mir eher den Kumpel, nicht den Pfarrer“.

Von Vorpommern
nach Spandau


Ganz im Nordwesten Berlins, im Spandauer Ortsteil Hakenfelde, liegt die Pfarrei St. Lambertus. Seit fünf Jahren ist dort Matthias Mücke Seelsorger. Geboren in Mahlow, südlich Berlins, ist er in Zossen aufgewachsen. 1981 zum Priester geweiht, wurde er von 1984 bis 1994 Kaplan und Pfarrer in Demmin in Vorpommern und damit Nachfolger des berühmten Domkapitular Wessels. Für Pfarrer Mücke war ebenfalls mit der Übernahme einer „Westpfarrei“ ein Neuanfang, eine Neuorientierung, „nötig und wichtig“. Für ihn war diese Stadtrandgemeinde Berlins ein „völliges Neuland“, es war „halt anders“, meint er. Schon das Äußere: „In Demmin hatte ich eine schöne Kirche, hier habe ich zwei kleine Kapellen und einen Mehrzweckraum“. Und dennoch war ihm von Anfang an klar: „Ich bin hier und ich bin ganz hier“. Und das hat die Gemeinde zu spüren bekommen. Eva Nordhausen, Leiterin der „Mittelalterrunde“ und Mitglied des Pfarrgemeinderats, schwärmt vom neuen Pfarrer: „Er ist einer, der sich schnell eingelebt hat, der auf Vorschläge und Veränderungen eingeht, der sich diplomatisch zurückhält und erst einmal abwartet. Wir haben also keinen Bruch zu früheren Pfarrern erlebt“.
Pfarrer Mücke selbst fühlt sich in seiner neuen Rolle sehr wohl: „Mit Euch bin ich Christ, für Euch bin ich Priester“ ist sein Motto und trauert nicht seiner Vergangenheit nach. Auch in Hakenfelde erlebt er „ein Stück heile Welt“.

Von Spandau
an die Oder


Als 1994 Pfarrer Gotthard Richter und das Team der Priestergemeinschaft der Oratorianer in Frankfurt (Oder) die Heilig-Kreuz-Gemeinde aufgeben wollte, und damit auch die Seelsorge in Golzow und Seelow im Oderbruch, war man im Bistum ratlos. Eine so große und „schwierige“ - da selbstbewußte - Pfarrei neu zu besetzen - wer traut sich das zu? Von den anfangs 13 Bewerbungen blieb einer übrig: Ronald Rother, ausgerechnet ein „Wessi“ aus Spandau, aufgewachsen im Spandauer Ortsteil Kladow und zuletzt auch dort Pfarrer, jugendbewegt, zuerst BDKJ-Präses, dann Diözesanjugendseelsorger im Westteil des Bistums. Er fragte sich: „Traue ich mir diese Aufgabe eigentlich noch zu?“ Zumal er noch gar nicht wußte, was ihn in Frankfurt erwartet. Auch Ronald Rother traf - wie umgekehrt Kluck im Westen - zunächst auf Vorbehalte.
Allerdings kam er in eine Gemeinde, die sich schon zu DDR-Zeiten von manch anderen Gemeinden in der östlichen Diaspora wesentlich unterschied. Geprägt durch die Priestergemeinschaft der Oratorianer gab es in der Großstadtgemeinde in Frankfurt ein sehr vielfältiges und selbstbewußtes Gemeindeleben. Laienarbeit im Team, Kinder- und Jugendarbeit, die gute ökumenische Zusammenarbeit und die grenzüberschreitenden Kontakte nach Polen - in Frankfurt kann Seelsorge eine positive Herausforderung sein.
Und dennoch, Pfarrer Rother gibt zu: So einfach war es doch nicht in der Anfangszeit. Seine Erfahrung: „In manchen Gesprächen wird der Westpfarrer doch nicht dazu gelassen...“ Wie Msgr. Kluck am Anfang: „Ich stehe einfach daneben...“
Das hat sich mittlerweile geändert. Das Jubiläumsjahr der Kirche hat auch Pfarrer und Gemeinde näher gebracht.

Georg von Glowczewski
Nr. 47/99 vom 28. November 1999

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