Kleiner Stein im großen Mosaik

Ein Erfahrungsbericht zum Austauschprogramm zwischen der Katholischen Theresienschule und der Pisgat Ze’ev High School in Jerusalem 

Berlin/Jerusalem - Es war der Tag des Wye-Abkommens, als die Maschine auf dem Flughafen von Tel Aviv zur Landung ansetzte. Während in Deutschland schon kühle Herbststürme tobten, empfing uns, eine Gruppe von 16 Schülerinnen und Schülern und zwei begleitenden Lehrern, in Israel ein milder Spätsommer, dessen untergehende Sonne das Land in feuriges Rot tauchte. 
Knapp eine halbe Stunde von Tel Aviv entfernt liegt Jerusalem und unser Zielort Pisgat Ze’ev, ein in den 70er Jahren errichteter Außenbezirk im Norden der Stadt an der Straße nach Ramallah. In der Stockfinsternis, die das Land nach jedem Sonnenuntergang zu überfallen scheint, waren bereits die Gestalten unserer Gastgeber auszumachen, die wir seit dem letzten Frühjahr nicht mehr gesehen hatten, als sie bei uns in Berlin zu Gast waren. Was die Pisgat Ze’ev High School und die Berliner Theresienschule nämlich verbindet, ist das seit 1996 existierende Austauschprogramm, das in 1998 zum zweiten Mal stattfand. „Austauschtätigkeit ist die praktische Umsetzung der von Diplomaten geführten Gespräche, d.h.: Schüler machen Politik“, äußerte Mirjam Shomrat, Generalkonsulin des Landes Israel in Berlin, bei unserem Besuch in der Vertretung des Landes Israel in Berlin über die Bedeutung eines solchen Programms, das nicht nur nationalitäten-, sondern auch religionsübergreifend angelegt ist. Dass dabei manchmal sensibelstes Neuland beschritten wird, ist kein Wunder. Aber eine Annäherung ist nur dann möglich, wenn man aufeinander zuzugehen wagt. 
An jenem Abend wurde uns in der Pisgat Ze’ev High School ein sehr herzlicher Empfang bereitet, bei dem die Schulleiterin Ricky Yankov warme Begrüßungsworte sprach und die israelischen Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern uns willkommen hießen. Durch die uns von den Familien entgegengebrachte Offenheit und Freundlichkeit konnte sich eine rasche Vertrautheit entwickeln, die auch tiefe Gespräche und Fragen zuließ, beispielsweise zum Nahostkonflikt. Generell bilden der Nahostkonflikt und der damit verbundene Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern einen der Schwerpunkte des Austausches, den anderen großen umfasst die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland und Israel. Während jedoch im Frühjahr eher die gemeinsame Vergangenheit thematisiert wurde und der Besuch der Gedenkstätte Sachsenhausen eine zentrale Rolle spielte, verlagerte sich das Gewicht nun auf die aktuelle Situation im Land. Um ein möglichst differenziertes Bild zu bekommen, wurden Vorträge besucht und Diskussionen mit den unterschiedlichsten Interessengruppen geführt. Dabei kam sowohl ein Sprecher des Außenministeriums zu Wort als auch ein in Israel geborener Araber, der über ethnische Minderheiten im Land referierte. Ergänzt durch einen Knesset-Besuch und diverser Treffen in der City-Hall of Jerusalem deckte der politische Aspekt einen Großteil des Programms ab, das nicht zufällig auch von der Municipality of Jerusalem geplant wurde. Im Gegensatz zu Berlin, wo die Organisation und Finanzierung des Projekts ganz in den Händen der Schule liegt, ist die Pisgat Ze’ev High School von der Stadtverwaltung für diesen Austausch ausgewählt und bis hin zur Auswahl der beteiligten Schülerinnen und Schüler lediglich mit einem Vorschlagsrecht an der Organisation beteiligt. Seitens der Stadtverwaltung maßgeblich am Projekt beteiligt waren Francoise Cafri, Merav Levy und Sylvie Rozenbaum. Darüber hinaus stellte die Municipality Nomi als Guide, die uns nicht nur durch viertausend Jahre wechselvolle Geschichte, wie sie sich in Jerusalem Schicht für Schicht offenbart, sondern auch durch die Weite der Wüste Negev führte und dank ihrer fließenden Englisch-, Hebrew und Deutschkenntnisse obendrein als Mittlerin zwischen Deutschen und Israelis wirkte. 
Jerusalem: „Wohnung des Friedens“, Stadt der Ängste, Empfindsamkeiten, Sorgen und Hoffnungen auf allen Seiten, Jerusalem galt es in seiner Vielschichtigkeit und Zerrissenheit zu erfahren, in den Gegensätzen von Tag und Nacht, Alltag und Shabat, Geschichte und Gegenwart. Wieviele Nationalitäten und Konfessionen leben in dieser Stadt, dass allein schon die Altstadt, das Zentrum Jerusalems, sich in vier Teile gliedert, das jüdische, das christliche, das arabische und das armenische. Ein Stadtrundgang gleicht einem Wandel durch die Zeiten, von der Tempelstadt Davids und Salomons bis zur im 20. Jahrhundert geteilten Stadt hin zur Metropole, die auch nachts nicht schläft und wie ein Magnet Scharen von Menschen anzieht. Auf der Kehrseite wird in diesem Herd des Konflikts das enorme Sicherheitsbedürfnis der Israelis deutlich, das sich in Gestalt zahlreicher bewaffneter Soldaten präsentiert und über das Stadtbild hinaus unseren gesamten Aufenthalt prägte. Von zwei Sicherheitskräften und Nomi begleitet machten wir uns zu einem zweitägigen Trip über die Stadtgrenzen hinaus auf. Dieser späte Programmteil markierte in Israel ähnlich wie in Deutschland den Höhepunkt des Austausches, wenn man sich auch darüber streiten mag, ob eine Schifffahrt im Spreewald mit dem Baden im Toten Meer vergleichbar ist. In jedem Fall aber liegt der Reiz im Erlebnis von etwas Unbekanntem. Auf einem Felsplateau zu den Ausläufern des Toten Meeres liegt die Festung Masada, die lange Zeit der Einnahme durch die Römer trotzte, bis die Bewohner der Überlieferung nach im Angesicht der Niederlage kollektiven Selbstmord begingen. An anderer Stelle, im Kibbuz Sde Boker im Negev, blicken die Gräber von Ben Gurion und seiner Frau in die Weite der Wüste, an einem Ort, welcher das Exempel Ben Gurions realistischer Vision statuiert: Leben in der Wüste ist möglich. 
Ein weiterer Tag galt den Erkundungen der biblischen Stätten, die vor allem im Norden des Landes liegen, wobei sich Nomi nicht nur als fachkundige, sondern auch als sensible Führerin erwies, die - offen für spontane Wünsche - einzelne Punkte des Programms zu ändern bereit war, um uns Raum für eine intensivere Auseinandersetzung mit unseren religiösen Wurzeln zu geben. Da wir gerade auch als Christen ins Heilige Land gekommen waren, besannen wir uns auf die Ereignisse, die sich zur Zeit Jesu rund um den See Genezareth ereigneten, und lasen die Evangelien mit einem neuen Blick. Besonders Johannes Wrembek verdanken wir die vielen Momente der Stille. Kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen begleitete der Religionslehrer die deutsche Gruppe gemeinsam mit Markus Mollitor, der als Leiter der Schülergruppe von Beginn an bei der Planung und Organisation des Programms beteiligt war. Nicht nur zwischen uns Jugendlichen erwuchsen Freundschaften, die die Fahrt zu einem Erlebnis machten und auf einen weiterführenden Kontakt bauen, auch die Lehrer sind sich nahe gekommen, so daß die persönliche Freundschaft die Kommunikationswege verkürzte und das pädagogische Zusammenwirken ermöglichte. So wird Guy Shemer, Leiter der israelischen Delegation, im Sommer auf persönliche Einladung hin in Berlin erwartet. 
Der Austausch zwischen Israel und Deutschland ist eine einmalige Gelegenheit der Begegnung für uns Schüler, die sich uns in dieser Form kein zweites Mal bieten wird. Bleibt die von Herrn Mollitor in seiner Rede am Abschiedsabend formulierte Aufgabe, die gesammelten Erfahrungen im Alltag umzusetzen, den Austausch als Stein eines Mosaiks im Dialog zwischen den Ländern, Religionen und Kulturen weiterzuleben. Damit auch andere Jugendliche die Chance haben, ein Steinchen im Mosaik von Toleranz und Dialog zu sein, muss dieser Austausch unbedingt fortgesetzt und erneuert werden, das heisst gegebenenfalls auch kritisiert werden. Aus diesem Grund wurde in zahlreichen Gesprächen sowohl zwischen den beteiligten Schülerinnen und Schülern als auch zwischen den Lehrern und den in Israel Verantwortlichen, wie z.B. Yigal Amedi, dem Deputy-Major in Jerusalem, Persönliches und Organisatorisches diskutiert. 
In die Zeit unseres 14tägigen Aufenthalts fiel nicht nur die Unterzeichnung des Wye-Abkommens, sondern auch der dritte Jahrestag der Ermordung Yitzhak Rabins, der im gesamten Land wie auch in der Pisgat Ze’ev High School mit einer Gedenkfeier begangen wurde. Die Einladung an die deutsche Gruppe zur Teilnahme an der Zeremonie stellte eine Ehre für die deutschen Jugendlichen dar und gibt Auskunft über das besondere Verhältnis beider Gruppen zueinander und die Bedeutung, die dem Programm von offizieller Seite beigemessen wird. 
Doch die Reise näherte sich ihrem Ende; mit der Rückkehr in das verregnete Berlin am 5. November 1998 war das Projekt allerdings noch nicht abgeschlossen. Mitte Dezember trafen sich die Berliner Schülerinnen und Schüler zu einem Nachbereitungstreffen, beginnend mit der Teilnahme an der Shabatfeier in der Synagoge Pestalozzistraße und endend mit einem Wortgottesdienst in der Theresienschule, zu dem auch Eltern und Schulleitung geladen waren. Dabei wurden neben einem geselligen Teil vor allem die persönlichen Eindrücke thematisiert und für die Weiterführung des Programms festgehalten sowie über Formen des Dialogs und die Weiterführung des Austausches „nach Israel“ diskutiert. 
Astrid Hackel 

Die Autorin ist Schülerin der 12. Klasse der Katholischen Theresienschule 

© by Astrid Hackel 
 Nr. 5/99 vom 7. Februar 1999